Schneeflocken tanzen leicht und beschwingt in weißer Unschuld am Fenster vorbei, flirrend im unwirklichen Sonnenlicht scheinen sie mir zuzuzwinkern: erinnere dich. Hohnlachend rieselt der Schnee im Takt der Flötentöne, die ich mir selbst nur kurze Zeit zuvor selbst beigebracht hatte. Tanzten die weißen Flocken, so tanzte auch ich, eben unbeschwert, leicht, beschwingt, mir selbst genug, eins mit Klängen im unwirklichen Licht computergesteuerter Effekte, eins mit forderndem Beat, eins und einig mit mir, im Klangteppich sicher ruhend wie eingerollt, im freien Spiel der Bewegung, losgelöst von Sorgen, losgelöst von allem. Erinnere Dich. Erinnere dich auch, wenn vergessen das Mittel der Wahl wäre. Erinnere dich, denn du musst. Erinnere dich, auch wenn es dich zerreißt innerlich, auch, wenn es dir gnadenlos den Spiegle vor hält, auch, wenn du in eine Fratze, deine, schaust, ein Gegenüber erblickst, dass du nicht sehen möchtest, verleugnen, hinwegtanzen, wie du alles hinwegtanzen möchtest, was dein Gegenüber zur Fratze macht, wenn, ja, wenn nur alles so beschwingt, so leicht wäre wie dieser Tanz mit den Flocken aus der einen Welt in die andere der verwirrenden Schwerelosigkeit des Glücks. Erinnere dich an sie. Erinnere dich bewusst an sie,  die scheinbar unbemerkt langsam deine Gefühle eroberte, dein Interesse weckte, Wünsche, Träume, die Ängste schuf, Zweifel, Widerspruch, die plötzlich fordernd in meinem Leben stand: tu etwas, nimm mich wahr, nimm mich ernst, nimm dich ernst, nimm dich wahr.

Schneeflocken tanzen leicht und beschwingt in weißer Unschuld am Fenster vorbei und ich erinnere mich. Erinnere mich an sie, an dich, an eine verworrene Geschichte von sehen, begehren, verdrängen, von widerwilligen Erkenntnissen, in der du zum vorläufigen Ende hin als idealisierte und strahlende Lichtgestalt unerreichbarer Ferne flirrende Flocken an meinem Fenster vorbei tanzen lässt, hohnlachend.

Und ich erinnere den Anfang, weit liegt er zurück, wie ich sie, dich, wahrnahm in einer mir noch nicht vertrauten Welt: auf eine besondere Art deplaziert wie ich, dabei, und doch nicht dazu gehörend, mittendrin und doch in nötiger Distanz, seelenverwandt, dennoch ferne Galaxien. Erinnere diese wundervollen und lebendigen Augen voll Lebenslust, lachende Augen, die scheinbar einen großen Bogen um mich guckten, mich von der Wahrnehmung auszuschließen schienen. Erinnere einen ausdrucksstarken Mund, immer in Bewegung, beredt auch im Schweigen, besonders, wenn die Mundwinkel, leicht nach unten gezogen, Spott verrieten, wenn er im Lachen Zähne zeigte, ein Lachen mit Seele, mit sprühenden Augen, mit frohen Augen, die, immer wach, alles im Blick behielten. Nur nicht mich, wie es schien. Unerreichbar. So empfunden, so damit abgefunden, so akzeptiert.

Und ich erinnere, dass jeder Versuch sie, dich, zu ignorieren, kläglich zum Scheitern verurteilt war über all die Monate, viele Monate, in denen ich sie, dich, sah, klammheimlich aus den Augenwinkeln, wehmütig, wehleidig, verstört, nicht erkennend, nicht erkennen wollend, das letztlich kein Weg an ihr, dir, vorbei führen würde ohne Klarheit zu gewinnen, ohne klärende Worte, erkennende, erkennbare Worte, erste Worte. Am Anfang war das Wort. So steht es in der Bibel. Aber welches Wort ist der Anfang, welches Wort schafft die Brücke, fordert Aufmerksamkeit, signalisiert mehr als den üblich-lieblosen Flirtversuch, welches Wort nur schafft den Zugang zu ihr, zu dir, welches Wort, welche Worte könnten es sein? Das steht dort nicht. Das steht nirgends. So ergab ich mich in schreiende Sprachlosigkeit, ich, der um kein Wort verlegen, mit Sprache als Waffe bestens vertraut, Wortjongleur, Wortmaler, der fast immer das letzte Wort hat, das passende, verletzende, sanfte, liebkosende, vernichtende, zynische, witzige, überzeugende Wort. Nur das erste Wort, das hatte ich nicht. Nicht für sie, nicht für dich. So war die Metapher der unerreichbaren Lichtgestalt ein kühlender Balsam auf diese Wunde.

Schneeflocken tanzen leicht und beschwingt in weißer Unschuld am Fenster vorbei, während mit stechendem Schmerz ein Bild im Kopf entsteht, mir die Luft zum Atmen nimmt, tonloser Schrei, alles durchdringend: späte Morgensonne, ein langer Weg, in unüberbrückbarer Weite sie, du, sich, dich entfernend, in schwarzer, eiliger Gestalt fast flüchtend, kurz noch blitzte ihr, dein Gesicht noch zu mir auf, dann verschluckte sie, dich Weite und Erkenntnis eines unentschuldbaren Versagens. Kein Dich. Übrig bleibt die Sie-Geschichte. Mehr nicht.

In Memoriam

Kategorien: Tagebuch