Wenn sich Konturen auflösen…

Der Herbst beginnt, Stimmungen und Szenarien auf Kälte und Dunkelheit einzuschwören, lässt hinter der bunten Fassade fallenden Laubs Depression und Einsamkeit aus dem Sommerschlaf erwachen. Wohl denen, die am Abend Wärme und Licht teilen können, in der Nacht Geborgenheit und Nähe wie selbstverständlich genießen dürfen…

Im fahlen Dunstkreis einer Laterne, deren Gaslicht vergebens versucht, durch Schwaden eilig ziehenden Nebels ein wenig Wärme in die Straße zu hauchen, hat ein alter Mann seine schwieligen Hände tief in den Taschen seiner Hose versenkt. Ein verschlissener Mantel löst die Konturen des Alten scheinbar auf, lässt keinen Schluss zu über Statur und Größe. Aus dem weichen Schatten seines Hutes stoßen Atemwölkchen hervor. Unregelmäßige Rauchzeichen als leises Signal fortschreitenden Siechtums, das niemand wahr nimmt in dieser erdschweren Einsamkeit, lösen sich langsam auf.

Ab und an versucht ein trockenes Hüsteln der Stille einen Anflug von Leben vor zu spielen. Ein unterdrücktes Hüsteln, fast so, als schäme sich der Mann, hörbar zu werden, der Stille ihre bedrückende Würde zu nehmen.

Der alte Mann lehnt, leicht nach vorn gebückt, reglos an der Laterne. Im unendlichen und doch verhaltenen Fluss eisiger Zeit scheint er lange schon so zu verharren. So, als wolle er nicht mehr anders, als wolle er ein für alle Mal verschmelzen mit der Umgebung, sich auflösen in ein Nichts, das alles durchdringt. So, als könne er nicht mehr anders, als gäbe es kein ‚Wohin‘ mehr und das ‚Woher‘ begänne langsam, seine Spuren zu verlieren. Und so lehnt er da, leicht nach vorn gebückt, weiterhin reglos an der Laterne. Gestrandet auf einer kleinen Insel inmitten spätherbstlicher Dunkelheit.

Der Wind treibt scheinbar spielerisch Nebelschwaden vor sich her, gewinnt an Stärke, nimmt weiter zu, pfeift eine hässliche Melodie durch die Nacht. Zum Sturm geworden lässt der Wind den alten Mann bedenklich schwanken.

Von einer Bö gepackt verschwindet der Hut, ein paar letzte Kapriolen schlagend, in der Nacht. Flackernd versucht das Gaslicht der Laterne, seinen schützenden Schirm zu wahren, flackernd indes scheint der Alte als verwischter Schatten einen Veitstanz aufzuführen. Wie von Sinnen hüpft sein schwarzes Abbild mal  hier hin, mal dort hin, gebärdet sich wie toll.

Eine heftige Bö bereitet dem Spuk des rasenden Derwischs ein jähes Ende. Das Licht verlöscht schlagartig, zischend erzählt ungezündetes Gas von der Vergänglichkeit. Im plötzlichen Innehalten der entfesselten Elemente ist ein dumpfer Schlag zu hören.

Stille.

Dann fegt ein frischer Windstoß den letzten Atemzug des Alten spurlos in die Finsternis.

Die Skizze eines Augenblicks,
so stilisiert, nur angedeutet,
von noch so schneller Hand
des Meisters ausgeführt
bleibt immer die verblich’ne Nachricht
aus einer längst vergangenen Zeit.

Die Niederschrift eines Menschenlebens,
so literarisch auch formuliert,
von noch so scharfem Geist
des Meisters aufnotiert,
bleibt, am Lauf der Zeit gemessen
nur die Skizze eines Augenblicks.

Kategorien: Geschichtliches