Im Leben eines Menschen gibt es Momente, wo Urinstinkte die Ratio besiegen, animalische Triebe sich ungehindert Bahn brechen, den Menschen zum Tier werden lassen. Schlimmer, wo der Mensch das Tier in ungezügelter Grausamkeit in den Schatten stellt, die Frage aufwirft, die einst Erich Kästner stellte im Angesicht einer drohenden Willkürherrschaft brauner Horden: was hat der Mensch mit Menschlichkeit zu tun? Wenn sie regiert. Die Abrechnung.

Immer und immer wieder schlug er ihren Kopf gegen die Wand.

“Wenn das Maß aller Dinge voll ist, dann ist es voll, voll und übervoll, über den Rand hinaus gefüllt, übergelaufen, verdammt, übergelaufen, über und über und über…”

Ein weiteres Mal flog ihr Kopf krachend gegen die Wand.

Rasend vor Zorn wollten seine blutunterlaufenen Augen nichts wahr nehmen, nahmen nichts wahr, ließen links und rechts liegen. Blicklos irrten diese Augen durch das Chaos um ihn herum, fanden keinen Halt, nein, auch sie fanden keinen Halt mehr an diesem Montag. Oder Dienstag. Oder Mittwoch. Donnerstag? Was spielte das jetzt noch für eine Rolle.

“Ich habe es vom ersten Moment an gewusst. Gewusst habe ich’s immer schon. Schon immer…”

Die Lippen bebten, während sie diese in den Raum gespuckten Worte formten. Eine Fratze, eine Totenmaske im Zorn für Augenblicke zu tobendem Leben gezwungen. Von Sinnen. Schweißnasse Haare gaben in wirrer Unordnung eine surreale Umrahmung, teils an wächserner Haut klebend, teils, der Raserei folgend, im wilden Tanz des Kopfes Tropfen säuerlichen Schweißes wie einen Sprühnebel verteilend. Wie Kabel traten die Adern am geschwollenen Hals hervor, der Mühe hatte, den Kopfbewegungen einen Halt zu geben. Wie Kabel, in denen es deutlich sichtbar pumpte, unter Hochdruck pulsierte.

Sie sang zu Boden, blieb reglos liegen. Reglos und ab diesem Moment unbeachtet, einsam, mit verdrehtem Kopf.

Der Mann hielt inne, schwer sanken die Arme herab, baumelten scheinbar unbeteiligt an der Seite. Es dauerte, bis erstaunlich schlanke Hände in tiefen Hosentaschen verschwanden. Der Atem ging stoßweise, langsam kam der Kopf zur Ruhe. Alle Haare klebten jetzt scherenschnittartig am Kopf, gerötete Augen schauten starr geradeaus, immer noch ohne Blick, ohne Ziel, wahrnehmungslos.

“Das alles ist doch der komplette Wahnsinn, irre ist das doch, irre. Das ist irre. Mein Gott, einfach nur irre…”

Schweren Schrittes schlurfte der Mann durch den Raum, sank dann mit einem Seufzen auf den mittig stehenden roten Bürodrehstuhl. Die Ellenbogen auf die Unterschenkel gestützt vergrub er das fiebrig glänzende Gesicht in den Händen. Lautes Schluchzen brach aus ihm hervor wie eine Eruption, brüllte Verzweiflung in die kurze Stille, unbeherrschte Verzweiflung, Wut, es brachen sich aufgestaute Gefühle Bahn, schüttelten seinen Körper, er schüttelte sich, wand sich unter dem Schmerz, das ganze Unglück nicht heraus schreien zu können, nicht Kraft, nicht Energie, nicht Wucht genug zu haben, dem Unsäglichen eine Stimme zu verleihen. Schrie es heraus, Schrie und schrie, bäumte sich auf, schrie alle Reserven aus dem Körper, brüllte, sprang auf, brüllte aus voller Lunge, hielt sich die Ohren zu und brüllte, brüllte, bis der Kopf zu bersten schien.

Sie lag unbeweglich, unbewegt, unbeachtet auf dem Boden.

Flatterig und ziellos, auch ziellos, zog ein Falter seine unbestimmte Bahn durch den fast leeren Raum, bildete einen scharfen Kontrast zur weißen Wand, zur weißen Decke. Der Mann aber sah ihn nicht. Der Mann nahm ihn nicht wahr, nahm immer noch nichts um ihn herum wahr, nahm sich selbst nicht wahr, schien in seinem Amoklauf von der Außenwelt seltsam isoliert. Losgelöst.

Sie lag immer noch gekrümmt und starr mitten im Raum.

Das wilde Gebrüll ebbte ab, schwer ging der Atem, stoßweise. Die Arme sanken wieder hinab, der Kopf senkte sich wie in Zeitlupe, langsam, wie aus einer tiefen Trance erwacht, fokussierten sich seine Augen, gerötet, feucht, wie erlöst aus dem Wahn tiefe Trauer widerspiegelnd, auf die am Boden liegende. Lange ruhten sie auf der gekrümmten Gestalt, lange verweilten sie in leisem Schmerz. Tränen rollten über die geröteten Wangen, die, schlecht rasiert und eingefallen, dem stetigen Rinnsal eine nasse Bahn gaben. Tränen tropften hinab auf ein weißes Hemd, hinterließen dunklen Flecke, die langsam größer wurden.

“Warum hast du mich dazu getrieben, hast mich dazu gebracht, dir diese Gewalt anzutun. Was hast du aus mir gemacht, was? Was habe ich getan? Warum das alles? Warum, in Gottes Namen? – Wieso?”

Es kam keine Antwort. Er hatte auch keine Antwort erwartet. Er würde nie eine Antwort erhalten. Wer hätte sie ihm auch geben sollen?

Ohne Vorankündigung sackten ihm die Beine weg, mit einer halben Drehung fiel er polternd zu Boden, hart schlug er auf, mit der Hüfte, mit der Schulter, zuletzt dann mit dem Kopf. Ein dumpfer Aufschlag. Der Schmerz fuhr glühend durch seinen Körper, zerriss den Vorhang seines Wahns, zwang ihn mit einem Aufschrei in die Realität zurück, in das Jetzt, in die Erkenntnis seiner Tat. Benommen, dennoch aber wieder klar bei Verstand, ungläubig registrierend, was er in seinem Jähzorn angerichtet hatte, richtete er sich mühsam wieder auf. Vorsichtig betastete er seinen Kopf: kein Blut, keine offene Wunde, nur ein dröhnender, dumpf pochender Schmerz, der ihn zwang, die Augen wie im grellen Sonnenlicht zusammen zu kneifen.

In einer Mischung aus Wut und Verachtung betrachtete er die am Boden liegende Gestalt.

“Nie wieder wirst du mich im Stich lassen, wirst mitten in der Vorstellung den Kopf verlieren. Einfach so den Kopf verlieren. Nie wieder. Du machst mich nicht mehr zum Gespött der Leute. Das wirst du nie mehr tun. Du nicht. Niemand macht mich zum Gespött.”

Sie lag da mit zerschmettertem Kopf, der nur noch lose auf den Schultern
zu hängen schien. So hilflos.

“Nie, nie, nie mehr. Du nicht. Niemand…!”

Er spuckte aus, spie seine ganze Missachtung auf die verkrümmte Gestalt. Mehrmals.

Dann, als hätte sich seine Wut plötzlich gelegt, schlurfte er in die Küche und kehrte kurze Zeit später mit einem dunkel schimmernden Knäuel zurück. Als sei ein böser Fluch wie Herbstlaub von ihm abgefallen, wirkte er nun sehr bestimmt, fast energisch. Geradewegs ging er auf die reglose Gestalt zu, bückte sich nach vorne, tief bückte er sich, so tief, bis seine fast zierlichen Hände den Boden berührten. Mit festem Griff langte er zu.

Die große Bauchrednerpuppe Manfred landete raschelnd im eilig herbei geschafften Müllsack zur letzten Ruhe.

..

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Michael Marx,
schon wieder mit diesem irren Blick…