Ein Torwart hat zu viel Zug bekommen und eine ganze Nation, was sage ich, ganz Hannover trauert um einen Menschen, den – genau genommen – nur seine Frau näher kannte. Würde das bei Sepp Maier passieren? Bei Ollie Kahn? Nein. Die hätten gehalten. So aber musste ein Zugführer seelsorgerisch behandelt werden, die Einsammler der sterblichen Überreste sowieso, -zig Menschen verspäteten sich teils dramatisch, angebrannte Essen, verblühte Rosen, angelaufene Parkuhren, kurz, die ganze Aktion war nicht durchdacht, aber wohl geplant. Nicht, dass ich mich über Depressionen lustig machen wollte, verfolgen mich die doch selbst, solange ich denken (?) kann. Ich kenne den Geschmack von gesättigter Kochsalzlösung zuerst und dann den von Gummischlauch, das regelmäßige Piepen des Herz-Kreislauf-Monitors, die hilflosen Gesten der Eltern – selbst dieser Schritt war mir nicht geglückt. Zufall. Mal dummer Zufall, mal glücklicher Zufall. Aber es sollte im Stillen stattfinden. Allein. Denn ich fühlte mich nicht lebensfähig, nicht zu Hause in meiner Haut – und niemand sonst sollte behelligt werden mit meinem einsamen Schmerz. Aus einem Berliner U-Bahn-Waggon, der fast ganz noch im Tunnel steckte, ohne die Chance, die Türen zu öffnen, sah ich – notdürftig abgedeckt – einen Menschklumpen, von der Feuerwehr zwischen den Wagen geborgen, auf dem Weg zum Ausgang. Sah einen weinenden Zugführer. Verstörte Gesichter. Nahm die beklemmende Stille wahr, das ungläubige Schweigen, von dem auch schnell die ergriffen wurden, die später zusteigen wollten. Surreal. Gespenstisch. Ewige Bilder. Kein unheimlich starker Abgang. Ein unheimlich egoistisches Fanal. Sorry, aber der Tot, erst recht, wenn selbst gewählt, kann auch ganz leise. Jeder frei gewählte Tot verdient Respekt und Achtung. Es ist ein langer, schwerer und schmerzhafter Weg bis zum Entschluss. Es kostet Überwindung, die Konsequenz zu ziehen. Aber dieser Tot ist privat, sehr privat. Oder sollte es sein. Aus Respekt und Akzeptanz denjenigen gegenüber, die diesen Weg akzeptieren und respektieren.
Die größte Trauerfeier seit Adenauer. Muss Adenauer selig stolz sein, mit einem Torwart in einem Atemzug genannt zu werden? Oder ist einigen Menschen ein wenig die Perspektive verrutscht? Im Jahr 2008 haben sich 9.402 Menschen das Leben genommen. In Deutschland. Das markiert – wie berichtet wurde – einen historischen Tiefstand. Herzlichen Glückwunsch. Depressionen? Komm, der war doch nur ein bisschen schlecht drauf. Kopf hoch, wird schon wieder. 9.402 Tote sprechen eine andere Sprache – auch wenn sicher nicht alle Opfer ihrer Depressionen wurden. Einer davon wurde zur Lichtgestallt hochgejazzt. Warum? Eher wird der Fußball eckig, als das sich in Punkto Anerkennung und Akzeptanz von Depressionen etwas ändert. Würde eine Firma einen depressiven Manager halten wollen? Oder irgendeinen Leistungsträger? Zwei Millionen Menschen sind in Deutschland erkrankt. Ist denen damit geholfen, wenn um diesen einen ein solch peinliches Spektakel veranstaltet wird? Um prominente Tote – und privat, ich meine, wirklich privat kannte die kaum jemand – wird ein mediales Drama inszeniert, der Rest wandert heimlich, still und leise unter die Erde. Lieber eine Totenmesse im Fußballstadion, als sich um die Lebenden angemessen zu kümmern. Das ändert sich auch nicht. Im Leben nicht.
Die kochende Volksseele kocht schon lange nicht mehr, selbst das Köcheln ist Vergangenheit. Trübe schwappt der lauwarme Brei im Land, erwärmt sich kurz am Spektakel, schlägt lustlos ein Paar Westerwellen, die auch im Sande verlaufen, um sich behäbig wieder in’s gemachte Grummelbett von Nachbarschaftsstreits, Steuerfrust, Benzinpreisschock, Sozialschmarotzerdebatten und kuscheligen Kissen aus Neid und Gier zu lümmeln. Blub.
Weit haben wir es gebracht und erfolgreich waren wir in dem, alles hinter uns zu lassen, auf das viele Generationen einst mit Recht stolz waren. Und jetzt? Lonesdale. Statt Kulti nur noch Multi. Doc Martens. Nummernkonten. Brennende Autos. Stütze in dritter Generation. Aber den Müll, den trennen wir. Meist. Ist das alles? Ach nein, da war noch was. Merkel und Westerwelle. Auf das sich nichts ändern möge im kollektiven Heierbett zwischen Kleingartenidylle und Krieg am Gartenzaun. Der letzte, der an einem Zaun rüttelte, verkauft lieber Gas. Auch eine Möglichkeit der Geschichtsbewältigung. Irgendwie.
Und wenn die letzte Messe gelesen ist? Business as usuall. Gelacht wird bei Barth, nicht bei Nuhr. Das halbrunde Tischchen steht auf dem Achterdeck der Titanic und hat ein Kommentor geschossen.