Sommer. Wurde auch Zeit. Sagen die Einen. Wurde wieder viel zu warm. Sage ich. Frühlingstyp. Auch Herbsttyp. Das bin ich. Oder Irlandtyp, vier Jahreszeiten an einem Tag. Aber Sommer pur? Wenn sich Klamotten nur noch mit sattem Schmatzen vom Körper trennen lassen, jeder Händedruck Fäden zieht, das beste Mittel gegen Mücken das Ausziehen von festem Schuhwerk ist und eine Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zum olfaktorischen Tschernobyl mutiert? Wenn der untere Rocksaum in Richtung Doppelkinn wandert, obwohl nur ein statistisch kaum erfassbarer Bodensatz weiblicher Selbsteinschätzung bodenlang verlassen sollte? Wenn erwachsene Männer braune Sandalen – prall gefüllt mit weißen Ärztesocken – zu Shorts tragen, die vom Bauchüberhang fast gänzlich aufgesaugt werden? Wenn sich in den Clubs blond auftoupierte Haarkränze mit blassen Vollpfosten drunter oben ohne auf den Tanzflächen verrenken, denen die Soße in Sturzbächen lecker sichtbar den leptosomen Oberkörper hinunter rinnt? Wenn die schönste Zeit des Tages am Hotelswimmingpool die Zeit ist, in denen alle Liegen zwar von Handtüchern, nicht aber von deren teutonischen Besitzern besetzt sind, also so gegen 3:45 morgens? Wenn man ohne Sicherheitsgurt Auto fahren kann, weil das Ablösen von der Rückenlehne mehr Zeit braucht, als die Fahrt selbst? Und ich meine die von Berlin nach München? Wenn meine Geranien auf dem Balkon so viel saufen, dass man schon das Saugen hört und auf das Rülpsen wartet als Zeichen für die Abkühlung der Nacht, die ebenso wenig kommt, wie das Rülpsen der Geranien? Wenn überall im Lande zwischen 12:00 und 15:00 Uhr der Chor der Rasenmäher zum brüllenden Tornado wird?
Nein, meins ist der so genannte Hochsommer nicht. Nicht hier. Nicht in der Großstadt. Nicht in Deutschland. Oder der Karibik. Nicht in Afrika. Oder Südamerika. Nicht in der arabischen Welt, nicht in der Unterwelt. Nicht auf Papua-Neuguinea. Oder gar Sylt. Nicht in der Sahara, der Gobi, der Kalahari, der Bonner Innenstadt. Nicht am Rhein, am Ganges, am Amazonas, am Po. Da schon gar nicht.
Ich sehe ein Haus, etwas oberhalb gelegen, am Kenmare River, zwischen Tragalee und Loughaunacreen auf der Spitze einer Landzunge ziemlich weit Richtung Mündung, auf der linken Seite – von Kenmare aus gesehen – gelegen, vier Häuser groß das Nest ohne Namen, direkt über einer spitzen Kurve der R 573 gelegen, unweit des Ring of Beara. Ich sehe dieses Haus auf niedrigen Stelzen stehend mit seinen drei Schlafzimmern, der Küche mit atemberaubenden Blick über den Kenmare River, über dem der Himmel ein sich im Minutentakt änderndes Schauspiel von dramatischer Intensität bot, den Kamin, dessen Torfbrikettfeuer an kühlen Abenden angenehm flackernde Wärme bot, den kleinen, einem felsigen Hang abgerungenen Tennisplatz, diese atemberaubende Gegend im äußersten Südwesten Irlands – und ich fühle Sehnsucht nach diesem Ort, möchte mich dahin zurück ziehen, 32 Kilometer entfernt von Kenmare als nächstem größeren Ort, möchte dort im Reinen sein mit mir, mit Natur, Wetter, Welt und Menschen, entschleunigt, enttaktet, entfetischt aller Moden und der Gier als Inhaltsersatz.
Ich sehe mich an eben diesem Kamin sitzen mit Blick in den Abendhimmel über der Mündung des Kenmare Rivers, vor mir kein halbrundes Tischchen, sondern im ledernen Ohrensessel mit Notebook auf dem Schoss Phantasien transportieren, in mir ruhend und ich liebevoller Nähe zu der Dame meines Herzens, dem Knautschgesicht mit Namen Sultan und all diesen Buntbarschen, Welsen, Barben, Platys und was sonst im leise summenden Becken schwimmen, mit Gedanken ohne Leinenzwang existenzieller Ängste, Termindruck und medialer Dauerberieselung, ich sehe einen realen Ort irrealer Verknüpfung mit einem Leben, das diese Vision nie umzusetzen vermögen wird, meine Schwäche, meine Ohnmacht – aber auch meinen Frieden mit dem, was ist. Man nennt das wohl Bodenhaftung. Ich nenne es den Reichtum meiner Gedanken, steuerfrei, ohne Zensur und nur auf meinem Lebenskonto reiche Zinsen zahlend. Ich teile.
Pardauz. Schweißperlen fliegen durch die Luft. Harte Landung. Während Rasenmäher nicht nur die Totenruhe stören, verhindern Schauerwolken das Schlimmste, und auf dem halbrunden Tischchen wird der Kaffee kalt, mir leider nicht, es ist einfach zu warm im Juli in Berlin in Deutschland in Mitteleuropa – jetzt – auf diesem Planeten Erde. Im Sommer.