Wir leben in interessanten Zeiten. Halbrunde Tischchen übernehmen schnell mal die Regie in einem streng unstrukturierten Leben, ein einzelner Buchstabe – egal, ob groß- oder kleingeschrieben – kann das seelische Gleichgewicht torpedieren und ein unbequemer Barhocker versucht, Schaffensperioden zu reglementieren, weil der eigentliche Arbeitsplatz von einem ständig laufenden Fernsehgerät als Geisel genommen wurde. Dinge diktieren mein Leben, der Fortschritt schreitet überall hin, nur nicht fort. Seit es Mobiltelefone gibt, bin ich nur am suchen. Früher brauchte ich bloß das Kabel aus der Telefonsteckdose – immer am gleichen Platz, IMMER – bis zum Gerät verfolgen, und das Gespräch konnte beginnen. Heute? Rufe ich mich von Handy zu Festnetz an, um die mobile Schönheit mit Farbdisplay, SMS-Option und integriertem Schwangerschaftstest überhaupt zu finden. Vorausgesetzt, ich weiß, wo mein Handy gerade steckt. Leider benötige ich zum effizienten Suchen eine Brille. Noch Fragen? Anmerkung: wer aus meinem Bekanntenkreis mit mir kommunizieren möchte, schickt mir eine Email…

Apropos Email. Abgesehen davon, dass man zu deren Rezeption ebenso wie zum Verfassen eine Brille braucht, ist der sekundenschnelle Gedankenaustausch via Email völlig problemlos. Nahezu: Am Anfang war ich sichtlich gerührt, wie viele mir bis dahin völlig unbekannte Mitbürger und Mitbürgerinnen sich um meine erektilen Fähigkeiten sorgten, ausgerechnet mir die allerschönsten Gespielinnen vermitteln wollten und sich kostenlos anerboten, meinen Online-Kontozugang zu überprüfen. Es waren hunderte. Da ich aber sexuell im Mittelgroßen und Ganzen recht gut klar komme und kein rumänisch Spreche, war ich schnell genervt ob der Fülle der Hilfsangebote. Mein Geld verwahre ich inzwischen zu Hause und nach fünf verbliebenen Jahren Privatinsolvenz sowie zweier Gastauftritte bei RTL II werde ich wieder ein völlig belangloses Leben führen dürfen.

Aber zum Glück gibt es ja sogenannte Spamfilter. Jetzt bekomme ich keine Emails mehr, es ist ruhig geworden um mich. Und so sitze ich auf diesem höllisch unbequemen Barhocker am halbrunden Tischchen, höre von nebenan das soziale Rauschen unablässiger Realities und fasse mich in Worte. Auch wenn immer wieder das ‘m’ klemmt.

Morgen besucht mich ein guter Freund. Er bringt mir ein altes, schwarzes Bakelit-Telefon mit. Das Kabel habe er schon den aktuellen Bedürfnissen angepasst. Dann wird es in bedeutungsvoller Schwere seinen Platz neben mir finden, ab und an herrisch klingeln und ohne Brille findbar mit unmissverständlicher Wählscheibe auf überraschende Gespräche warten. Und der allumfassenden Dingdiktatur eine schwarze Abfuhr erteilen.

Ruf! Mich! An!