Es ist ganz schön Sommer und ich frage mich. Warum zum Beispiel Menschen freidrehen, wenn die Sonne über uns lacht – ah, kapiert! Späßchen, nee? – und selbst Warmduscher unter Wasser eine Gänsehaut bekommen. Oder warum die Aggressivität am Steuer überproportional zur Sonneneinstrahlung ins Gemüt ansteigt, so, als müssten alle als Erste ihr imaginäres Handtuch auf eine imaginäre Liege am imaginären Pool werfen? Oder sich Millionen Freiwillige ohne Not erst textilarm rösten lassen, um dann doch nach der ersten Chemo festzustellen, dass sie mit Haaren noch vergleichsweise besser aussehen? Sonne, Sommer, Somnambule…
Da hocken sie nun dicht gedrängt in den Straßenkaffees und trinken Straßenkaffee, auf dessen Oberfläche ein dekorativer Ölfilm in der Sonne schillert, hüsteln sich die Feinstaubplaketten aus der Erkenntnis und brüllen sich, der Kakophonie des Straßenlärms trotzend, ihre Lieblingsmonologe zu: urbane Dumpfbratzenromantik. In Berlin gibt es für Landeier im Doppelstock-Sight-Seeing-Becher sogar Touren nach Kreuzberg in die Bergmannstraße zum ungläubigen Studium des Homo Sapiens Urbanis Demenz. Und sie bekommen etwas geboten, weiß Gott (der sich selbst aus gutem Grund übrigens nie in der Bergmannstraße blicken lässt…):
Da hocken sie also zusammengepfercht hinter mikroskopisch kleinen Tischchen in diesen Straßenkaffees und schlürfen den oben beschriebenen Straßenkaffee verschanzt hinter Macbooks und Sonnenbrillen, um zu sehen, wer sie sieht und allgemein gesehen zu werden in den kurzen Momenten, in denen sie nicht durch Slalom rasende Zweiradterroristen, bockige Pampersianer, hysterische Erzeugerinnen, lamentierende Kopftücher, Kinderwagenkollisionen, Hupkonzerte oder Rentner in mentalem Ausnahmezustand gestört werden. Natürlich rasen die Radler auf den verbliebenen Gehwegmillimetern – sie erinnern sich: die Straßenkaffees… -, die Autoisten (das „mobil“ lassen wir aus verständlichen Gründen einmal weg) eher nicht und der Rest überall zwischendrin und zwischendurch, während über allem der Duft von Ganja, Diesel, Schweiß, Knoblauch, Bier, Hundekot und Kölnisch Wasser wabert. Wer will da noch die Museumsinsel sehen.
Derweil wird es eng vor Einkaufszentren, Möbelhäusern und – vor allen Dingen – vor Baumärkten. Je schöner und wärmer, desto enger. Besonders vor Baumärkten. Im Sommer. Jeder Versuch, bei tiefblauem Himmel und 33 Grad im nicht vorhandenen Schatten mitten in der Woche einen Parkplatz vor einem Baumarkt zu ergattern, ist von vornherein zum Scheitern verurteilt, selbst wenn die Parkfläche größer ist als der Vatikan. Aussichtslos. Wer noch keinen Hammer hat, holt ihn sich jetzt. Aber warum? Weil alle denken, dass bei einem so schönen Wetter nur Vollidioten zum Baumarkt fahren? Oder weil in den Straßenkaffees im Bergmannkietz selbst Stehplätze vergeben sind? Wir wissen es nicht.
Erst im Urlaub wird alles anders: da zieht es den Großstädter in die ländliche Idylle oder die Abgeschiedenheit ferner Kulturen, um behutsam an diesen teilzuhaben. Ach ja? Von welchem Planeten kommen Sie denn? Der Laubenpieper fährt auf seinen Dauercampingplatz, der Plattenbaubewohner in ein Hotelturmghetto, alle essen gemeinsam das, was sie auch zu Hause essen und beschweren sich bei der Reiseleitung über Durchfall nach plötzlichem Verzehr von Obst und Gemüse. Dafür können die nun wirklich nichts für den Mangel an Baumärkten am Ferienort und der Rundumbelästigung durch Lebensabschnittsparter und selbst gemachte Kinder. Wie gut, dass man sich am Arbeitsplatz von den Strapazen erholen kann.
Nehmen wir uns ein Beispiel an den Japanern. Die haben aus gutem Grund nur eine Woche Urlaub, in der sie sich Europa ansehen. Für Deutschland nehmen sie sich 18 Stunden Zeit, darunter allein zehn für Heidelberg und Neuschwanstein. Das reicht. Wir hingegen brauchen Jahre, um die japanische Kultur auch nur im Ansatz zu begreifen. Weil die eine haben.
Wer aber holländische Touristen in 3.400 m Höhe auf dem Jungfraujoch in Shorts und Badelatschen gesehen hat oder die Hinterlassenschaften italienischer Großfamilien nach einem Picknick in der freien Wildbahn oder russische Gattinnen im Berliner Kaufhaus des Westens oder Skandinavier auf einer Fähre, der weiß, dass jegliche Scham offenbar völlig überflüssig ist. Da aber alle so denken, wird der gewünschte Effekt bedauerlicherweise in sein Gegenteil verkehrt. Was auch immer das bedeuten mag.
Während dessen konkurriert in schönen Schöneberg ein Eistee in beschlagenem Glas mit blühenden Geranien und leuchtend roten Strauchtomaten um Aufmerksamkeit, während mein Blick über verwinkelte Dächer in den blauen Himmel streift – ins Nichts gerichtet. Nebenan verteilt ein tiefgrüner Friedhof seine gleichnamige Ruhe wohlwollend, lässt selbst Singvögel auf Zehenspitzen picken. Sanfte Luftzüge laufen ein auf dem Balkon im Seitenflügel, viertes OG Mitte rechts. Der Sommer kann schön sein in der Großstadt. Wenn man ihn nur lässt… Entlässt. Aus meinen Sommertagstraumata.