Im Rathaus von Kaltensteinhausen war ein wenig Ruhe eingekehrt, die fast mit den Splittern des glasigen Blicks unter dem Teppich gelandet wäre. Das erste Opfer war abtransportiert worden und würde mit der künstlichen Hüfte auf die Urne gelötet und in Wagenfarbe des bedauerlichen Verblichenen im engsten Familienkreise hinreichend feierlich beigesetzt werden. Die Todesursache hatte bereits einen angemessenen Platz unter dem Teppich gefunden, auf dem hoch ober nun der Rat von Kaltensteinhausen in leidlicher Disziplin zu tagen begonnen hatte.

Unter keinen Umständen dürfe etwas von Grundloffs These an die Öffentlichkeit gelangen, rief der Bürgermeister mit Nachdruck in die Runde, während sich sein drohend erhobener Zeigefinger in den Kronleuchter bohrte, dass es bedenklich zu klirren begann, unter keinen Umständen! Der Bürgermeister richtete sich zu halbvoller Größe aus und hielt den Ratsmitgliedern einen Vortrag, der einmal als die Umdrehungsrede in eine ganz andere Geschichte eingehen sollte.

Geehrter Rat der Stadt Kaltensteinhausen, begann er, während sein leicht gebeugtes Haupt über die Rathaussaaldecke strich, wir stehen vor einer ernsthaften Staats-, ja, ich erlaube mir an dieser Stelle sogar, von einer Welt- und Existenzkrise. Kaltensteinhausen hat viele Jahre von den startenden und landenden Aeroplanen profitiert und sich zu einem prosperierenden Gemeinwesen entwickelt. Dank der erfolgreichen Arbeit unserer ganz großen Koalition haben wir es zu einem gewissen Reichtum gebracht. Doch – der erhobene Zeigefinger klirrte erneut bedrohlich im Kronleuchter, doch mit den Jahren sind wir bequem geworden, haben alles, was von außen kam, unter den Teppich zu kehren begonnen. Wir…

Krachend fuhr die Faust des einzigen Oppositionellen auf dem Rathaustisch umher, der bei dem Versuch, sich ebenfalls aufzurichten, auf halbem Wege durch die Rathausdecke empfindlich ausgebremst wurde. Ich von der Opposition habe schon damals gewarnt, schon damals, als die ganz große Koalition sich, und dass muss – das laut in die Runde geworfene Wort ‘muss’ endete ebenfalls mit einem Zeigefinger im Kronleuchter – muss an dieser Stelle einmal, was, uns, liebe Ratsmitglieder, aber dass wissen sie doch selbst und es besteht keine Zweifel, dass, anders als vor der Wahl, die Stimme der Opposition schraubte sich in luftige Höhen, entgegen dem Beschluss, entgegen, beim zweiten ‘entgegen’ zersprangen die ersten Wassergläser, so hoch schrillte inzwischen die Stimme der Opposition, an den sich hier, und das bereits seit Jahren, seit J a h r e n! Beim letzten Wort überschlug sich die Stimme der Opposition und blieb auf dem Dach liegen.

Betroffenes Schweigen breitete sich aus. Alle, die vom Schweigen nicht betroffen waren, murmelten empört. Der unterbrochene Bürgermeister räusperte sich laut und vernehmlich, während er vergeblich versuchte, seinen Zeigefinger aus dem Kronleuchter zu befreien. Im Angesicht der ernsten Lage bitte ich sie, meine Herren, das Spiel zu unterbrechen und die Murmeln einzusammeln. Ich bitte Sie! Meine Herren! Bitte!

Erneut kehrte Ruhe ein und landete mit viel Glück auch diesmal nicht unter dem Teppich.  Mit dem Finger im Kronleuchter fuhr der halb aufgerichtete Bürgermeister fort: Wir müssen uns nun augenblicklich – und ich meine augenblicklich im Sinne von sofort – mit der neuen Lage auseinandersetzen. Grundloffs These ist von globaler Brisanz und darf unter keinen Umständen, nicht einmal unter anderen, an die Öffentlichkeit dringen, unter keinen Umständen. Wenn Grundloffs These richtig ist, stehen wir vor der größten Krise seit der Schöpfung.

Seit dem Urknall, warf der Ratsherr der Opposition mit letzter Kraft ein, seit dem Urknall!

Unerhört, unerhört, entrüstete sich eine Zweidrittelmehrheit mit Nachdruck. Unerhört.

Wieder setzt aufgeregtes Murmeln ein. Die Kugeln klackerten über den Tisch, der aus Gründen der Geheimhaltung taubstumme Schriftführer konnte nicht von allen Lippen lesen und während der Krach eines weiteren landenden Aeroplans den Kronleuchter erzittern ließ, kam der Zeigefinger des Bürgermeisters plötzlich und unerwartet frei, während die Opposition einem Herzstillstand erlag. Lähmendes Entsetzen betrat den Rathaussaal, konnte sich aber gegen das enthemmte Chaos nicht durchsetzen, verhinderte aber den Versuch der Ruhe, erneut erfolgreich einzukehren, erfolgreich.

Der Bürgermeister wollte am liebsten fortfahren, leider war jedoch sein Chauffeur noch nicht zurückgekehrt und so musste er nolens volens erneut das flüchtende Wort ergreifen.
Ruhe! brüllte er. Ruhe! Chaos und Entsetzen blickten sich ungläubig an, Ruhe stolzierte hohnlachend an ihnen vorbei und landete zum dritten Mal nicht unter dem Teppich. Hohnlachend.

Schafft mir Grundloff herbei und bildet Ausschüsse, bildet Ausschüsse!